Der Wandel zu einem erneuerbaren Energiesystem eröffnet einen schnell expandierenden Lösungsraum. Fachpersonen müssen aus vielen Möglichkeiten die geeignetste Lösung finden. Dabei braucht es eine Güterabwägung zwischen Zuverlässigkeit, Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit. Diese Arbeit wird mit umfassenden Daten und Algorithmen unterstützt.
Um das Klimaziel netto null Treibhausgas-Emissionen im Jahr 2050 zu erreichen [1], muss prioritär das heutige Energiesystem umgebaut werden. Werden die heutigen Energieverbraucher ausschliesslich mit CO2-freier Energie versorgt, ist die Voraussetzung geschaffen, damit sämtliche Wirtschaftszweige klimagerecht produzieren und Private sich klimagerecht verhalten können. Eine solche Transformation geht einher mit der Steigerung der Energieeffizienz und dem Erschliessen erneuerbarer Energiequellen wie Sonne, Wind, Biomasse, Geothermie, Gewässer etc.[2]
Der Technologiemix eines Energiesystems, welches vollständig durch erneuerbare Energien betrieben wird, ist vielfältiger als das heutige, öl- und gas-dominierte Energiesystem. Um die mannigfachen Energiequellen zu nutzen, aber auch, um deren Einsatz dem Bedarf anzupassen, braucht es diverse technische Lösungen, wie Solaranlagen, Erdwärmesonden, Speichersysteme, Wärmepumpen, Wärme-Kraft-Kopplungsanlagen (WKK) und Fernwärmesysteme. Zusätzlich garantieren interagierende Energiemanagement-Systeme einen sicheren und effizienten Betrieb.
Eine weitere Entwicklung ist in der Struktur und Organisation des Energiesystems zu erkennen. Erneuerbare Energiequellen sind von Natur aus kleinskalig und treten verteilt im urbanen und ländlichen Raum auf. Die lokale und regionale Nutzung solcher Energiequellen bringt wirtschaftliche Vorteile und steigert die Energieeffizienz. Dezentrale Energiesysteme1) sind Konzepte, welche die Transformation des Energiesystems vorantreiben.[3]
Definiert werden sie als ein Zusammenschluss von mehreren Gebäuden in einem Quartier oder Areal, welche vorwiegend erneuerbare Energien sowie verschiedene Umwandlungs- und Speichertechnologien gemeinsam nutzen (Bild unten).
Das Konzept der dezentralen Energieversorgung brachte und bringt eine Grosszahl an neuen Produkten und Dienstleistungen hervor. Diese Zunahme der Innovationstätigkeit im Energiesektor ist entscheidend, um das Netto-null-Ziel zu erreichen. Auf dem Weg zu diesem ehrgeizigen, aber realistischen Ziel muss eine Vielzahl von Entscheidungen getroffen werden. Hervorgerufen durch neue Produkte und Dienstleistungen2) erweitert sich die Auswahl an möglichen Lösungen kontinuierlich (Bild unten). Die Frage stellt sich: Wie kann ein Energieplaner in einem schnell expandierenden Lösungsraum die wirkungsvollste Lösung für sein Projekt finden?
Um sich im immer grösser werdenden Lösungsraum zurechtzufinden, braucht es Orientierungshilfen. Damit können Energieplaner die verschiedensten Produkte und Dienstleistungen vergleichen und die am besten geeignete Lösung für ihr Energieversorgungsprojekt auswählen. In den letzten Jahren haben sich drei Beurteilungskriterien als Orientierungshilfen hervorgetan: Zuverlässigkeit, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit des Energiesystems. Diese drei Kriterien gilt es zu maximieren, um die beste Lösung für das jeweilige Projekt zu erhalten. Wie so oft stehen die Kriterien in einer Wechselwirkung. Wird beispielsweise die Nachhaltigkeit verbessert, verschlechtert sich die Wirtschaftlichkeit und umgekehrt. Zwischen den drei Kriterien muss eine Güterabwägung stattfinden, oder eben: Das Energieversorgungs-Trilemma muss bewältigt werden (Bild unten).
Der Energieplaner muss Hunderte, wenn nicht Tausende von möglichen Technologien und Technologiekombinationen in diesem Trilemma beurteilen und die beste respektive die optimale Lösung mittels Güterabwägung für sein Projekt finden. Es ist unschwer erkennbar, dass mit den herkömmlichen Planungsinstrumenten – vornehmlich excel-basierte Berechnungs-Tools – das Finden von optimalen Lösungen im Trilemma sehr zeitaufwendig und zum Teil nur mit kritischen Vereinfachungen möglich ist. Die Digitalisierung unterstützt Energieplaner heute bei der Suche nach der optimalen Lösung.
Die Datenerfassung im urbanen Gebiet wird immer umfassender. Mit Satellitendaten und Luftaufnahmen können digitale 3D-Modelle von Städten, Dörfern und Quartieren erstellt werden. Bestehende und neue Infrastrukturen werden mittels GIS- und BIM-Daten erfasst und ermöglichen die Anfertigung von geo-referenzierten, digitalen Modellen für den Hoch- und Tiefbau. Aufzeichnungen anonymer Bewegungsprofile von Menschen in Städten nutzen einerseits Technologieunternehmen wie zum Beispiel Google für kundenspezifische Werbung, anderseits können statistisch relevante Nutzungsprofile für Restaurants, Läden oder Büros erstellt werden. Die daraus resultierenden Lastprofile können die Planung und den Betrieb von Energiesystemen verbessern, indem zum Beispiel die Dimensionierung der technischen Anlagen und der Betrieb auf die fluktuierenden Energiequellen wie Sonne und Wind abgestimmt werden.[4]
Dies sind nur ein paar einzelne Beispiele, wie aus der «Datenquelle Stadt» ein Nutzen für Energiesysteme gewonnen werden kann. Die Datenbasis ermöglicht nicht nur, aktuelle Informationen über den Zustand der Energieversorgung bereitzustellen, sondern erlaubt auch, Szenarien für das zukünftige Energiesystem zu entwickeln. Ob eine Wärme-Kraft-Kopplung mit synthetischem Gas im Quartier X in der Stadt Y sinnvoll ist, kann dank Daten und Algorithmen simuliert und optimiert werden. Die Resultate können zur Beurteilung der drei Kriterien Zuverlässigkeit, Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit herangezogen werden. Die Wirkung kann im Trilemma dargestellt werden und hilft Energieplanern, zum Beispiel die WKK-Lösung im Vergleich mit anderen Versorgungsvarianten zu beurteilen.
Muss nicht nur eine Technologie untersucht, sondern verschiedenste etablierte und neue Technologien sowie deren Kombination beurteilt werden, braucht es leistungsfähige Computer und Algorithmen (siehe auch Machine Learning3)). Aus diesem und vielen weiteren Bedürfnissen4) zur Nutzung von urbanen Daten ist die Disziplin «Urban Informatics» (UI) entstanden. Das Ziel von UI ist, grosse, vielfältige Datensätze zu analysieren und zu verstehen.[5–7] Im vorliegenden Fall wird damit Klarheit im Trilemma geschaffen, um fundierte Entscheidungen treffen zu können.
Aus dem Bereich UI sind leistungsstarke Instrumente für die Planung und den Betrieb von komplexen Systemen – wie dezentralen Energiesystemen – hervorgegangen. An der Empa und der ETH  Zürich sowie im Rahmen des SCCER-FEEB&D5) wurden in den letzten sieben Jahren Algorithmen entwickelt, welche die Planung und den Betrieb von dezentralen Energiesystemen unterstützen.[8] Basierend auf verschiedenen Datenquellen können digitale Modelle von heutigen und zu-
künftigen Energiesystemen erstellt werden. Anhand dieser Modelle werden Energieströme simuliert und Energiesysteme optimiert.
Das Ziel ist dabei, alle optimalen Lösungen eines Projektes im Energie-Trilemma zu finden und diese dem Energieplaner verständlich darzustellen. Planer können aus den Resultaten die geeignetste Lösung mittels Güterabwägung wählen. Dabei haben sie die Sicherheit, dass jede wählbare Lösung immer eine optimale Lösung ist, das heisst maximale Sicherheit und Nachhaltigkeit bei gewählter Wirtschaftlichkeit.
Die Bewertung der drei Kriterien im Trilemma berechnet das Empa-Spin-off Sympheny beispielsweise wie folgt:
Mit leistungsfähigen Cloud-Rechnern wird der immense Lösungsraum aller möglichen Energiesysteme durchsucht. Die jeweils optimalen Lösungen werden schliesslich in einer Pareto-Front dargestellt (Bild oben). Das Kriterium Zuverlässigkeit wird in der Pareto-Front nicht dargestellt, da es immer zu 100 % erfüllt ist. Der Energieplaner kann anhand der einfachen, zweidimensionalen Pareto-Front die geeignetste Lösung für seinen Kunden wählen. Jede Lösung entspricht einer spezifischen Kombination von Technologien, welche im Detail visualisiert und weiter analysiert werden kann.
Energieplaner, welche bisher mit viel Aufwand und wenig Präzision ihre Konzepte mit umfangreichen Excel-Tabellen erstellt haben, können mit solchen neuen Planungsinstrumenten umfassende und optimierte Konzepte mit wenig Aufwand für ihre Kunden entwickeln. Die Planer erhalten anstelle zeitraubender Datenverarbeitung mehr Zeit für kreative Arbeit, wie zum Beispiel Sensitivitätsanalysen, um robuste Lösungen zu planen. Solche Instrumente sind als Werkzeuge zu verstehen. Sie ersetzen also nicht die Fachperson, sondern erleichtern ihr die Arbeit.
Die IBC Energie Wasser Chur hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2040 kein CO2 in ihrem Versorgungsgebiet zu emittieren. Um den optimalen Technologiemix für die Energieversorgung zu finden, wurde für die Stadt Chur ein digitales Modell (Bild oben) erstellt. Anhand dieses Modells wurden die Pareto-Fronten für 2018, 2035 und 2050 berechnet (Bild unten). Jeder Punkt auf der Pareto-Front repräsentiert ein optimales Energiekonzept. Auf der Pareto-Front 2035 und 2050 kann die Lösung gewählt werden, mit welcher die Stadt Chur ihre CO2-Ziele von <3 kg CO2/m2EFB6) beziehungsweise null CO2-Emissionen bei minimalen Kosten erreicht. In den Detailanalysen der jeweiligen Lösungen werden die Massnahmen für den Umbau des Energiesystems ersichtlich. Interessant war dabei, zu erkennen, dass das heutige Energiesystem (rechts von Pareto-Punkt 1 im Bild unten7)) in ein nahezu CO2-freies Energiesystem (Pareto-Punkt 3) umgebaut werden kann, ohne die Wirtschaftlichkeit, das heisst die Lebenszykluskosten, zu erhöhen. Zu beachten gilt, dass der Umbau hohe Investitionen benötigt, welche jedoch die Wirtschaftlichkeit gegenüber heute nicht verschlechtern.
Im Weiteren kann die IBC einen agilen Transformationsprozess umsetzen. Nach jedem Umbauschritt können die Möglichkeiten für die nächsten Umbauschritte unter Berücksichtigung neuer Technologien und/oder Rahmenbedingungen neu berechnet und in einer angepassten Pareto-Front dargestellt werden. Die IBC ist damit in der Lage, jeden Ausbauschritt anhand aktuellster Informationen zu bestimmen. Damit wird das Risiko für den Umbau des Energiesystems minimiert. Die IBC nutzt die neusten Erkenntnisse der algorithmen-unterstützten Planung, um das Netto-null-Ziel mit minimalem Risiko zu erreichen, das heisst mit optimalen Lösungen.
[1]  «Totalrevision des CO2-Gesetzes nach 2020», «Abkommen zwischen der Schweiz und der EU über die Verknüpfung der Emissionshandelssysteme», Bafu, 2020, in Vernehmlassung.
[2]  «Energiestrategie 2050 Monitoring-Bericht 2018 Langfassung», BFE, 2018, S. 17–19.
[3]  M. Sulzer, K. Orehounig, A. Bollinger, «Komplexität ist die neue Einfachheit», Aqua & Gas, 9/2020.
[4]  C. Waibel, R. Evins, J. Carmeliet, «Co-simulation and optimization of building geometry and multi-energy systems: Interdependencies in energy supply, energy demand and solar potentials», Applied Energy, Nummer 242, 2019, S. 1661–1682.
[5]  F. Radulovic, M. Poveda-VillalĂłn, D. Vila-Suero, V. RodrĂguez-Doncel, R. GarcĂa-Castro, A. GĂłmez-PĂ©rez, «Guidelines for Linked Data generation and publication: An example in building energy consumption», Automation in Construction, Nummer 57, 2015, Seiten 178–187.
[6]  F. Orlandi, A. Meehan, M. Hossari, S. Dev, D. O’Sullivan, T. AlSkaif, «Interlinking Heterogeneous Data for Smart Energy Systems», Proc. International Conference on Smart Energy Systems and Technologies (SEST), 2019.
[7]  M. Zekić-Sušac, S. Mitrović, A. Has, «Machine learning based system for managing energy efficiency of public sector as an approach towards smart cities» International Journal of Information Management, 2020, 102074.
[8]  F Bünning, B Huber, P Heer, A Aboudonia, J Lygeros, «Experimental demonstration of data predictive control for energy optimization and thermal comfort in buildings», Energy and Buildings 211, 10979.
[9] Â www.bafu.admin.ch/co2-statistk.
2021_03_sulzer_energieplanung.pdf
‍